Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 18. Mai 2025 – 2 BvQ 32/25
Am 18. Mai 2025 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit einem Beschluss im Eilverfahren die Zwangsvollstreckung aus einem Räumungsvergleich vorübergehend gestoppt. Anlass war ein unmittelbar bevorstehender Räumungstermin, von dem eine hochschwangere Frau und ihre Familie betroffen waren. Die Entscheidung setzt wichtige Maßstäbe für den verfassungsrechtlichen Schutz vulnerabler Schuldner – insbesondere mit Blick auf die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und die Schutzpflicht des Staates für das ungeborene Leben.
Der Beschluss ist nicht nur für Mieter mit besonderen gesundheitlichen oder familiären Belastungen bedeutsam, sondern gibt auch Vermietern Hinweise, welche Sorgfalt Gerichte bei Räumungsschutzanträgen walten lassen müssen. Dieser Beitrag erläutert die Hintergründe und die juristischen Implikationen der Entscheidung.
Sachverhalt: Räumung vier Tage vor geplantem Kaiserschnitt
Die Antragsteller – eine Familie mit Kind – sollten am 19. Mai 2025 um 8:30 Uhr zwangsweise aus ihrer Mietwohnung geräumt werden. Die Antragstellerin zu 2., eine schwangere Frau, hatte für den 23. Mai 2025 eine medizinisch geplante Entbindung per Kaiserschnitt (primäre Sectio) angekündigt und entsprechende ärztliche Nachweise vorgelegt.
Die Räumung wurde auf Grundlage eines gerichtlichen Vergleichs (AG Schwabach, 1 C 379/23 vom 18. Januar 2024) durchgeführt. Im Vollstreckungsschutzverfahren nach § 765a ZPO hatten die Antragsteller mehrfach auf erhebliche gesundheitliche Risiken für Mutter und Kind sowie auf eine drohende menschenunwürdige Unterbringung in einer Notunterkunft (Containerlösung) hingewiesen. Das Amtsgericht Schwabach wies den Antrag zurück – mit rechtlich und verfassungsrechtlich problematischen Erwägungen.
Kern der Entscheidung: Schutzpflicht für Leib, Leben und Menschenwürde
Das Bundesverfassungsgericht hob hervor, dass bei Zwangsräumungen die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) sowie auf Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) besonders zu beachten sind. Diese Rechte begründen nicht nur ein Abwehrrecht gegen den Staat, sondern auch eine staatliche Schutzpflicht. Das gilt gerade dann, wenn konkret drohende Gesundheitsgefahren substantiiert vorgetragen werden – wie hier im Fall einer unmittelbar bevorstehenden Geburt durch Kaiserschnitt.
Verfassungsrechtliche Mindestanforderungen an Vollstreckungsgerichte
Das Gericht stellte klar, dass Vollstreckungsgerichte verpflichtet sind, bei gesundheitlich relevanten Einwänden sorgfältig aufzuklären. Liegt keine eigene medizinische Sachkunde vor – was in der Regel anzunehmen ist –, müssen sie medizinische Gutachten oder sonstige sachverständige Stellungnahmen einholen. Die Ablehnung des Räumungsschutzantrags durch das Amtsgericht Schwabach genügte diesen Anforderungen nicht:
- Die Schwangerschaft der Antragstellerin wurde trotz ärztlicher Bescheinigung angezweifelt.
- Die damit verbundenen Risiken für Mutter und ungeborenes Kind wurden nicht angemessen aufgeklärt oder gewürdigt.
- Die Notunterkunft in einem Container wurde nicht im Hinblick auf medizinisch-hygienische Mindeststandards geprüft.
- Die Anträge wurden teilweise mit dem moralischen Vorwurf „fahrlässiger Familienplanung“ zurückgewiesen.
Solche Erwägungen, so das BVerfG, sind nicht tragfähig und verfassungsrechtlich problematisch. Insbesondere ist es nicht Aufgabe der Vollstreckungsgerichte, moralische Bewertungen der Lebensführung der Schuldner vorzunehmen. Entscheidend ist allein die objektive Gefährdungslage für Leib und Leben.
Das ungeborene Leben im Räumungsschutzverfahren
Bemerkenswert ist, dass das Bundesverfassungsgericht auch den Schutz des ungeborenen Kindes ausdrücklich mit einbezieht. Das Grundgesetz schützt das werdende Leben über Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG. Der Staat hat eine objektive Schutzpflicht, dieses Leben zu bewahren und darf sich nicht auf formale Erwägungen wie die Rechtskraft eines Räumungstitels beschränken, wenn Leben und Gesundheit auf dem Spiel stehen.
Die Entscheidung bringt daher Klarheit: Der Schutz des ungeborenen Lebens ist auch im Zivilvollstreckungsrecht von erheblicher Bedeutung – und muss dort angemessen Berücksichtigung finden.
Folgenabwägung: Schutzinteressen der Mieter überwiegen
In seiner Folgenabwägung gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG kam das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass der Schaden für die Antragsteller im Fall einer Zwangsräumung – insbesondere mit Blick auf die bevorstehende Geburt – erheblich und potenziell irreversibel wäre. Demgegenüber sei eine Verzögerung der Vollstreckung für einige Monate für den Vermieter hinnehmbar.
Die einstweilige Anordnung wurde daher bis zur Entscheidung über die noch einzulegende Verfassungsbeschwerde – längstens für sechs Monate – erlassen. Der Vermieter darf also frühestens nach Ablauf dieser Frist (bzw. nach Entscheidung in der Hauptsache) erneut vollstrecken.
Rechtliche Einordnung für die Praxis: Was Vermieter und Mieter wissen sollten
Für Mieter (und deren Anwälte):
- Räumungsschutzanträge sollten bei gesundheitlichen Härten frühzeitig und gut dokumentiert gestellt werden.
- Medizinische Nachweise (z. B. Krankenhausberichte, Atteste) sind von zentraler Bedeutung.
- Auch der Zustand von Notunterkünften (z. B. Containerlösungen) ist rechtlich relevant.
- Schwangerschaft und bevorstehende Entbindungen sind besonders gewichtige Härtegründe, insbesondere wenn das Leben oder die Gesundheit von Mutter und Kind gefährdet sein können.
Für Vermieter (und deren Anwälte):
- Auch bei berechtigten Räumungsansprüchen nach Urteil oder Vergleich ist die Durchsetzung nicht in jedem Fall sofort möglich.
- Wird auf Seiten der Mieter eine konkrete Gefährdung von Leben oder Gesundheit geltend gemacht, sollten Räumungstermine mit Bedacht geprüft und ggf. aufgeschoben werden.
- Andernfalls drohen erhebliche Verzögerungen durch verfassungsrechtlichen Eilrechtsschutz – mit unkalkulierbaren Folgekosten.
- Eine konstruktive Einigung mit Mietern in gesundheitlich kritischen Situationen ist oft wirtschaftlich sinnvoller als eine forciert durchgesetzte Zwangsräumung.
Fazit: Sensibilisierung der Rechtsprechung und der Praxis notwendig
Die Entscheidung 2 BvQ 32/25 mahnt zu größerer Sensibilität im Umgang mit Vollstreckungsschutzanträgen in gesundheitlich vulnerablen Konstellationen – insbesondere bei Schwangerschaft. Sie erinnert daran, dass Zivilvollstreckung im Verfassungsstaat stets ihre Grenze in den Grundrechten findet. Der Schutz des ungeborenen Lebens und das Gebot menschenwürdiger Behandlung auch im Räumungsvollzug sind keine abstrakten Werte, sondern konkrete rechtliche Verpflichtungen.
Für Mieter wie Vermieter gilt: Ein rechtzeitiger, rechtlich fundierter und humaner Umgang mit solchen Ausnahmesituationen kann gerichtliche Konflikte vermeiden – und letztlich allen Beteiligten dienen.